Ferdinand Raimund
Bausteine zu Biographie und Rollenspiel

© Jürgen Hein

   

Das Interesse an der Biographie überlagert zum Teil immer noch jenes am Werk Raimunds und dessen Deutung. Die „Raimund-Legende“ hat die faszinierende vielschichtige Biographie eines „Zerrissenen“ verdeckt, dessen Spiel und dramatisches Schaffen u.a. Ausdruck ästhetischer Umsetzung von existentiellen Problemen war, dessen Aufstieg als Künstler untrennbar mit dem Bewältigungsversuch seiner letztlich unüberwindbaren Hypochondrie verbunden ist.

Ferdinand Raimund wurde am 1. Juni 1790 (in seiner Selbstbiographie gibt er fälschlich 1791 an) als zweites Kind des aus Prag eingewanderten Drechslermeisters Jakob Raimann aus Prag (auch: Reymann, Raymond, Raimund) und seiner Frau Katharina, geb. Merz, in der Wiener Vorstadt Mariahilf (Nr. 11, „Hirschenhaus“, heute 6. Wiener Gemeindebezirk, Mariahilfer Str. 45) geboren. Bescheidene Vermögensverhältnisse, besonders nach dem frühen Tod der Eltern (1802 starb die Mutter, 1804 der Vater), zwingen Raimund nach Besuch der Volksschule von St. Anna, die als sehr gut galt, zu einem schnellen Broterwerb. Er beginnt die Lehre bei einem Zuckerbäcker, der die Konzession hatte, im Wiener Burgtheater und im Josefstädter Theater Erfrischungen zu verkaufen. Als Verkäufer von Süßigkeiten („Numero“) erhält Raimund die erste Begegnung mit dem Theater, das in ihm ein leidenschaftliches Interesse entfacht:

Die Neigung zur Schauspielkunst, durch den Besuch des k. k. Hofburgtheaters geweckt, erwachte schon sehr früh und mit solcher Heftigkeit in mir, daß ich schon als Knabe beschloß, nie einen andern Stand zu wählen; doch war mein Sinn vorzugsweise dem Trauerspiele zugewandt, das Lustspiel begeisterte mich weniger, die Posse war mir gleichgiltig. Als ich kaum fünfzehn Jahre alt war, entriß mir der Tod meine Eltern, und meine unbemittelte Schwester, welche mich zu sich nahm, konnte nicht fortsetzen, was jene für meine Bildung begonnen hatten. Man wollte mich zwingen, einen andern Stand zu wählen, als den eines Künstlers, aber ich konnte von meinen romantischen Träumen nicht lassen, und wollte lieber hungern, als meinem Entschlusse entsagen; ein Schicksal, welches mir im Anfange meiner Laufhahn reichlich zu Theil geworden ist. (Selbstbiographie, SW Bd. 5,2, S. 722 f.)

Die Echtheit der Selbstbiographie wird freilich angezweifelt. Raimund entflieht um 1808/09 der Lehre und versucht, sich wandernden Schauspieltruppen anzuschließen. Nach vergeblichen Versuchen in Meidling und Preßburg stößt er zur Hainschen Theatergesellschaft in Steinamanger und spielt dort die verschiedensten Rollen. Raimund kann seine Vielseitigkeit erproben, die sich freilich noch im Kopieren beliebter Vorbilder erschöpft. Nach Auflösung der Gesellschaft 1809 wird er für kurze Zeit Mitglied einer kleinen Truppe in Ödenburg und kommt durch einen „glücklichen Zufall“ in das Engagement des Direktors Kuntz, dessen Truppe in Odenburg und Raab (Ungarn) spielte, und „wo ich durch vier Jahre das Fach der Intriguants und komischen Alten begleitete“ (SW Bd. 5,2, S.723). 1810 steht Raimunds Name zum erstenmal auf einem Theaterzettel (SW Bd. 3, S. 289); 1813 bespricht die Wiener Theaterzeitung die Leistungen der Kuntzischen Truppe und schreibt über Raimund: „Hr. Raimund spielt alles!“ (SW Bd. 5,1, S. 9). 1814 erhält Raimund eine Einladung zu einem Gastspiel im Josefstädter Theater; er debütiert unter anderm in der Rolle des Franz Moor. Er bevorzugt die Tyrannen und Intriganten aus dem Spielplan des Burgtheaters und kopiert deren Stil (vor allem den Ferdinand Ochsenheimers). Auch bei den Komikern hält er sich an Vorbilder (Johann Laroche, Anton Hasenhut, Ignaz Schuster): „Hr. Reymund scheint nicht ohne Talent zu sein, aber die sklavische Nachahmung eines hier in seinem Fache mit Recht beliebten Künstlers warf ihn manchmal bis zum Lächerlichen herab“ (1814; SW Bd. 5,1, S.17). Übertriebenes Spiel und bloße Imitation werden im Laufe der Zeit von der Suche nach einem eigenen Stil abgelöst.

Raimunds Komiker-Talent erkannte der Vizedirektor des Josefstädter Theaters Josef Alois Gleich, der ihm 1815 in Die Musikanten am Hohen Markt die Rolle des eifersüchtigen Geigers Adam Kratzerl auf den Leib schrieb. „Er tut einem leid, und man muß doch zugleich über ihn lachen. Diese Rolle wurde für Raimund ein Erfolg, der über sein Leben und seine Kunst entschied. Sie war von einer Komik, wie sie nur entsteht, wenn Komik zugleich Selbstdarstellung und Selbstbefreiung ist, mag der Darsteller das wissen oder nicht“ (Rommel 1952, S. 895). Raimund hielt sich freilich weniger für einen Komiker; angeblich soll er, wie Bauernfeld mitteilt, gesagt haben: „Ich bin zum Tragiker geboren, mir fehlt dazu nix, als die G’stalt und ’s Organ“.

Nach Gastspielen am Theater in der Leopoldstadt und am Theater an der Wien tritt Raimund 1817 in das Ensemble des Leopoldstädter Theaters ein, das als das beste und berühmteste der Wiener Vorstadttheater galt. Die Anhänger des bekannten Lokalkomikers Ignaz Schuster sahen in Raimunds Engagement eine Beschränkung der Spielmöglichkeiten ihres Lieblings. Raimunds Bemühungen um die Gunst des Publikums und die Abgrenzung gegen den Darstellungsstil Schusters waren der Ausbildung seines eigenen schauspielerischen Stils, vor allem seiner „neuen“ Komik förderlich (vgl. Norbert J. Mayer: Ignaz Schuster und die Entwicklung des Schauspiels von Laroche zu Raimund im Wandel der theatralischen Gattungen des Volkstheaters. Diss. masch. Wien 1966, bes. S. 243-281).

Im Frühjahr 1818 ging Raimund ein Verhältnis mit der Schauspielerin Therese Grünthal ein; sie verläßt ihn nach kurzer Zeit wegen seines „aufbrausenden, groben Charakters“. Dieser Treuebruch verletzt Raimund schwer; als er sie im Theater mit einem anderen sieht, fordert er sie zur Rückkehr auf. Sie weigert sich, und im Verlauf des Streits schlägt er sie vor Zeugen. Wegen ungebührlichen Verhaltens (vorausgegangen waren verbotene Extempores und „unsittliches Betragen“, weil Raimund mit Therese Grünthal zusammenlebte) wird er mit dreitägigem, verschärftem Arrest bestraft. Die Folgen der Grünthal-Affäre spürte Raimund noch zehn Jahre später, als er zum Theaterdirektor ernannt wird, wobei seine charakterliche Eignung in Frage steht (vgl. die Polizeiprotokolle: SW Bd. 3, S. 342 ff., und die Einleitung Castles zu den Briefen, SW Bd. 4, bes. S. XXXII ff.)

Auch Raimunds zweite Liebesaffäre führte ihn mit einer leichtlebigen Schauspielerin zusammen:Louise Gleich, die Tochter des Theaterdichters, die – wie Therese Grünthal – schon in frühen Jahren dem Fürsten Kaunitz „verkauft“ worden war und mit diesem in intimen Beziehungen stand. Gustav Gugitz hat die Hintergründe der Affäre aktenmäßig aufgehellt (vgl. Gugitz 1956). – Anfang 1819 lernt Raimund Antonie (Toni) Wagner kennen, Tochter eines bekannten Kaffeehausbesitzers, entbrennt in heftiger Liebe zu ihr (vgl. Briefe, SW Bd. 4), wird aber von den Eltern als Bewerber um die Hand ihrer Tochter abgewiesen. Während einer Krankheit läßt er sich 1820 mit der nicht in bestem Ruf stehenden Louise Gleich ein, der er ein Engagement am Leopoldstädter Theater verschafft. Raimund empfindet die Verwirrung seiner Gefühle (vgl. SW Bd. 4, S. 7), willigt aber, bei seiner Ehre gepackt, in eine Ehe mit ihr ein, zumal ein Kind unterwegs ist. Es gibt einen großen Skandal, als Raimund nicht zur Trauung erscheint. Das Publikum entzieht im gänzlich die Gunst; durch privaten und öffentlichen Druck wird er am 8. April 1820 zur Heirat gezwungen. Das Publikum feiert den ersten gemeinsamen Auftritt des Paares nach der Hochzeit begeistert als Sieg der „Moral“. Im Oktober 1820 wird Raimunds (?) Tochter Amalia geboren und stirbt nach wenigen Wochen. Die unter Zwang, ohne Liebe und Vertrauen zustande gekommene Ehe zerbricht nach zahlreichen bis zur Tätlichkeit ausartenden Streitigkeiten im Juli 1821, im August bestätigt ein pfarramtliches Zeugnis die Trennung von Tisch und Bett, im Dezember wird der Ehescheidungsprozeß eingeleitet, und am 22. Januar 1822 erkennt der Magistrat der Stadt Wien auf Scheidung (vgl. Protokolle, SW Bd. 3, S. 350 ff.). Raimunds Ehe gleicht „einer von der Bühne in die Wirklichkeit verirrten Intrigenkomödie“ (Erken 1969, S. 307).

Erst seit der umfassenden Sammlung der Briefe Raimunds an Toni Wagner von Brukner/Castle in SW Bd. 4 und dem von Reinhard Urbach edierten Tagebuch Toni Wagners ist das oft idealisierte und verklärte Liebesverhältnis wirklich durchsichtig geworden. Die frühere Forschung übersieht in ihrer Glorifizierung der „innigen“ und „heißen“ Liebe die vielen Streitigkeiten, Eifersuchtsszenen und Dissonanzen, die in den Briefen Raimunds ebenso anklingen wie in den Tagebuchnotizen Toni Wagners (SW Bd. 4, S. 303–332 und Urbach); ihre eigenen Briefe sind vermutlich von ihr selbst oder ihren Schwestern vernichtet worden. Castle hat sein Urteil in der Einleitung zur Ausgabe der Briefe revidiert und den Versuch einer objektiven Schilderung der Begegnung Raimunds mit Antonie Wagner sowie der Entwicklung ihrer Liebe und Lebensgemeinschaft unternommen. Nach dem ersten Kennenlernen (1819) finden Raimund und Toni bereits im Juni 1820 wieder zusammen. Der geschiedene Raimund konnte als Katholik nach österreichischem Recht keine neue Ehe mehr eingehen. Die Liebenden finden eine andere Form der Besiegelung ihrer Lebensgemeinschaft; am 10. September 1821 treten sie vor die Mariensäule in Neustift, ihre „Liebe durch Schwur und Ehre für immer zu begründen“ (SW Bd. 4, S. 210 f.); beide wiederholen ihr Gelöbnis auch schriftlich (SW Bd. 4, S. 19 und 20). Raimund bekräftigt, daß Toni für immer und solange er lebe seine Gattin sei (SW Bd. 4, S. 86). Die bürgerliche Lebensgemeinschaft bedeutete jedoch kein bürgerliches Glück, der Makel des doch nicht Endgültigen haftete ihr zeitlebens an und überschattete – auch als Grund der fortwährenden Eifersucht den Versuch eines bürgerlichen Liebesglücks in bürgerlich unüblichen Verhältnissen. Erst 1827 erkennen die Eltern Tonis die Gemeinschaft beider an; 1830 geben sie ihnen eine Wohnung in ihrem Haus. Raimund bietet Toni materielle Sicherheit über seinen Tod hinaus, indem er sie zur Universalerbin einsetzt. Nach Castle trägt die Liebe zwischen Raimund und Toni, die Rommel „ein im Metaphysischen verwurzeltes Erlebnis“ (Rommel 1952, S. 901) nennt, den Charakter der „Lebenslüge“ (SW Bd. 4, S. LXI). „Das Ideal, das Raimund erträumt hatte, war Toni kaum. Nicht sie hat ihn etwa über sich hinausgehoben und zu sich hinaufgezogen (Fuhrmann 1913, S. 30 f.), sondern er hat seinen hochgesteigerten Enthusiasmus ins Leben getragen, das ihn auch hier bitter enttäuschte“ (Castle, SW Bd. 4, S. LXI). Raimund: „[…] ich bin zum Leiden geboren“ (SW Bd. 4, S. 204; vgl. S. 60).

Der Ton des Leidens, der oft aus seinen Briefen spricht, hat einen tieferen Grund als den Konflikt des Theatermenschen mit der bürgerlichen Enge, auch wenn Raimund selbst davon spricht, daß das Publikum nur sein „Unglück im bürgerlichen Leben“ wolle (SW Bd. 4, S.61). Seine Hypochondrie und Schwermut, die von Zeitgenossen (z. B. den Burgschauspieler Carl Ludwig Costenoble) als Wurzel seines dichterischen Schaffens hervorgehoben werden, zeugen von inneren Spannungen seines Charakters, die er wohl selber nicht begriff, und für deren Erklärung er äußere Gründe suchte.

1821 schließt Raimund mit dem Leopoldstädter Theater einen Kontrakt über zehn Jahre ab und wird zum Regisseur ernannt. Der Kontrakt gewährte ihm 100 Gulden Wochengage Quartiergeld [entspricht etwa 1540 €], jährlich einmal die Einnahmen eines Abends (Benefiz) und 250 Gulden für die Regie [entspricht etwa 3850 €]. Raimund gehört nun zu den „Großen“ des Wiener Theaters; der Wert seiner Einnahmen ist heutigen Spitzengagen vergleichbar. Zu seinen Freunden und Bekannten zählt er Franz Grillparzer, Eduard von Bauernfeld, Carl Ludwig Costenoble und ein paar Kollegen. Auf der Suche nach zugkräftigen Stücken schreibt Raimund oft eigene Einlagen und Szenen für seine Rolle. Aber nicht nur der Mangel an guten Spielmöglichkeiten führt ihn schließlich dazu selber Stücke zu schreiben, sondern vor allem die Unzufriedenheit über die Produkte des Geschäftstheaters:

Mit unseren Dichtern geht es immer miserabler, sie betreiben ihre Kunst blos um Geld herauszulocken, nicht um Ehre zu ärnten und es ist zum verzweifeln, was man für Schmierereyn lesen muß. (SW Bd. 4, S. 25; vgl. auch ebd., S. 168 f.).

Raimund strebte nach Höherem, er wollte dem Publikum des „Lachtheaters“ statt bloßer Unterhaltung ,Kunst‘ bieten. In kurzer Zeit schreibt er, nachdem Karl Meisl den Auftrag nicht ausführen kann, sein erstes Stück, Der Barometermacher auf der Zauberinsel, das 1823 zunächst anonym aufgeführt wird. Der große Erfolg und die Verleumdung, das Stück stamme von Karl Meisl, Raimund habe nur ein paar Witze hinzugefügt, stacheln ihn zu einem neuen Stück an: Der Diamant des Geisterkönigs (1824). Im folgenden Jahr befällt ihn eine Gemütskrankheit („durch die fortwährend geistige und physische Anstrengung und Kränkungen im Leben“ [SW Bd. 5,2, S. 725]); kleinere Erholungsreisen – u. a. nach Gutenstein – stellen ihn wieder her. Zur Feier seiner Genesung wird ihm eine Gedenkmünze gewidmet. Noch während der Krankheit schreibt er Gedichte (An die Dunkelheit) und beginnt mit Der Bauer als Millionär oder Das Mädchen aus der Feenwelt (1826). Im gleichen Jahr entsteht auch Die gefesselte Phantasie (Aufführung 1828). 1827 schreibt er einige Gedichte (An Gutenstein) und Moisasurs Zauberfluch.

Im April 1828 wird Raimund zum Direktor des Leopoldstadter Theaters ernannt. Im gleichen Jahr erreicht er mit Der Alpenkönig und der Menschenfeind seinen bisher größten Erfolg. Ein großer Mißerfolg dagegen war im folgenden Jahr Die unheilbringende Zauberkrone. Nach Ablauf des Kontrakts scheidet Raimund 1830 als Schauspieler, Regisseur und Direktor vom Ensemble des Leopoldstädter Theaters, das durch den Abgang der berühmten Mitglieder Therese Krones, Katharina Ennöckl, Ignaz Schuster und Friedrich Josef Korntheuer schon vorher an gutem Ruf viel eingebüßt hatte. Gastspiele führen Raimund nach München (1831, 1832 und 1835), Hamburg (1831,1832 und 1836), Prag (1836) und Berlin (1832) – dort bietet man ihm gar die Direktion eines Theaters an. 1833 und 1834 gastiert Raimund längere Zeit im Theater in der Josefstadt, wo auch die Erstaufführung seines letzten Stückes stattfand. Der Verschwender (1834) war ein großer finanzieller und künstlerischer Erfolg, in kurzer Zeit gab es 100 ausverkaufte Vorstellungen. Am 20. Januar 1836 tritt Raimund in der Rolle des Valentin zum letztenmal in Wien auf; am 1. Mai steht er zum letztenmal auf der Bühne (in Hamburg). Am 25. August wird er, den eine Art Hundephobie nach Aussagen der Zeitgenossen schon länger bedrückt, von seinem Hund in Gutenstein (dort besitzt er seit 1834 ein Haus) gebissen. Ihn ergreift panische Angst vor der Tollwut, und er bricht Hals über Kopf mit Toni nach Wien auf, um sich einer ärztlichen Behandlung zu unterziehen. Ein Gewitter zwingt zur Übernachtung in einem Wirtshaus in Pottenstein, wo Raimund sich am 30. August gegen Morgen in die Mundhöhle schießt. Die Kugel bleibt im Schädel stecken; die aus Wien herbeigerufenen Ärzte können ihm nicht mehr helfen. Raimund stirbt am 5. September 1836.

Lange Zeit verdeckten die „Legende“ – feuilletonistische Erfindungen um Raimunds Person nach seinem Tod – und psychologische Sehweise die biographischen Fakten. Besondere Schwierigkeiten machte den Biographen Raimunds „literarischer Ehrgeiz“ und seine „schöpferische Zerrissenheit“: Raimund fühlte sich als Tragiker, wurde aber vom Publikum als Komiker gefeiert. Raimund war nicht nur Schauspieler und Interpret seiner Stücke, sondern empfand sich zugleich mehr als Dichter, weniger als Stückeschreiber, sprach von seiner „Kunst“. Das literarisch-geistige Element ist in seinen Dramen gegenüber denen seiner Kollegen so hervorstechend, daß diese darüber spotteten (z. B. Adolf Bäuerle; vgl. SW Bd. 5,1, S. 334). Grillparzer war der Meinung, Raimund habe es „nicht sowohl an Bildung“ gefehlt, „als an der Fähigkeit sich eine Bildung zu nutze zu machen“ (Raimund SW Bd. 5,2, S. 705). Rommel erklärt die Wendung zum Tragischen „nicht aus mißgeleitetem literarischem Ehrgeiz“, sondern aus dem „Wesen und der seelischen Entwicklung Raimunds“.

Einige Dichter-Stimmen bewerten Werk und Wirkung:

Übrigens starb dieser vortreffliche Mensch und höchst talentvolle Dichter eben zur echten Zeit. Er hätte nichts Gutes mehr geschrieben seit man ihn auf seine unbewußte Tiefe aufmerksam machte und er nun mit Absicht darauf hinarbeitete.
(Grillparzers Ansichten über Literatur, Bühne und Leben. Aus Unterredungen mit Adolf Foglar, 1872, S. 33)

Als Raimund seine Märchen dichtete, hielten wir junge Männer sie für Verirrungen eines bedeutenden Geistes, der unter besseren Umstanden ein großer Trauerspiel-Dichter geworden wäre; und wenn wir jetzt eines dieser Märchen aufführen sehen, erscheint es uns edel wahr und natürlich.
(Adalbert Stifter, Sämtliche Werke, Bd .16, 1927, S. 386)

Einzig Raimund hat dies romantische Märchenlustspiel in Wahrheit wieder für uns lebendig gemacht und Nord und Süd und jung und alt in gleicher Weise entzückt. Aber diese Märchenstücke Raimunds sind eben selbst durch und durch ein Stück lebendiger Volkspoesie, […] sie sind unmittelbar aus dem Wiener Volksgeiste herausgewachsen.
(Hermann Hettner, Das moderne Drama [1852], hg. v. A. Merbach, Berlin und Leipzig 1924, S. 159)

Aber unter denen, die noch die Raimundtage miterlebt haben, wird doch dieser oder jener zu finden sein, der es allen Ernstes vorzieht, sein Leben statt durch einen Kommerzienrat durch eine Fee bestimmt zu sehen. Ich gehöre ganz entschieden zu diesen. Wenn ich aber die Raimundschen Feen auch als Geschmackssache zugeben und fallenlassen will, auf dem Raimundschen Bettler, dieser so bedeutsamen, so tief aus dem Born echtester Poesie geschöpften Gestalt in diesem seinem herrlichsten Stücke, muß ich bestehen.
(Theodor Fontane 1886 zu Der Verschwender: Schriften zum Theater, hg. v. H.H. Reuter, Berlin 1960, S. 164).

Die Erzählung Ihr Herr Bruder von Adolf Muschg, die Raimunds Tod ein „gründliches Mißverständnis der Natur“ (S. 9) nennt, schließt mit der Charakteristik:

[…] ein Mensch, ein vielleicht begnadeter, aber unseliger Mensch, [der] nicht zu leben wußte; weil er nicht die Geduld aufbrachte, sich selber und andern gnädig zu sein (Leib und Leben, Frankfurt/M. 1985, S. 17).

Nach Roger Bauer (Bauer 1987) ist Raimund ein „Zweifelnder und sogar ein Verzweifelter“, Ruprecht Wimmer spricht von „verzweifelnde(r) Gläubigkeit“ (Wimmer 1984, S. 22). Für Bauer gibt er sich Illusionen hin und benötigt „zur Erhärtung seines Glaubens, seiner paradoxen Zuversicht neue Garanten“, „,demütige‘ Schutzheilige, aus den untersten Schichten des kleinen Volkes“ (S. 154f.).

Eine andere ,Bruchstelle‘ in Biographie, Rollenspiel und Werk hat Robert Musil entdeckt: Robert Musil meinte in einer Aufführungskritik zu Der Alpenkönig und der Menschenfeind:

Sentimentalität neben Brutalität des Menschen nacheinander gezeigt und scheinbar achtlos zu einer Einheit gebunden, geben die wundervollen Szenen eines großen Dichters (Theater, Reinbek 1965, S. 171 f.).

In diesem Kontext erscheint die Selbsttötung Raimunds in einem neuen Licht. Für Peter von Matt hat er, noch einem ständischen Denken verhaftet, kaum erwarten können, woran Nestroy nicht zu denken wagte:

Wenn Raimund sich schließlich erschossen hat, dann war dies, wie bei Stifter, weniger der plötzliche Einsturz aller seelischen Tragwerke als der Entschluß, dem Tod als einem vertrauten Bekannten ein Stück weit entgegenzugehen (Nestroys Panik, in: P.v.M.: Das Schicksal der Phantasie, Studien zur deutschen Literatur, München, Wien 1994, S. 145; vgl. auch S. 147).

  

Raimund als Schauspieler

Franz Hadamowsky hat gezeigt, wie der Theaterdichter aus dem Schauspieler Raimund hervorgeht. Sein Versuch der Nachzeichnung des Schauspielstils Raimunds aus zeitgenössischen Quellen (SW Bd. 5, 1 und 2) bringt wichtige Erkenntnisse für die Struktur der Dramen, die vor allem durch das Theatralische und das Spiel mit dem Publikum gekennzeichnet ist. Ein Blick auf die schauspielerische Entwicklung eröffnet Perspektiven auf Struktur und Dramaturgie der Stücke Raimunds.

Raimund, dessen eigentliche Welt das Theater war, bemühte sich um innere Wahrheit der Darstellung; er vermied jede Übertreibung und wollte keine Typen, sondern Charaktere darstellen. – Zunächst kopiert er freilich „fertige“ Rollen in allen Fächern des Repertoires, hauptsächlich Intriganten des Schauspiels, dann (ab 1817) mehr und mehr komische Wiener Typen. Die Theaterkritik lobt sein Talent, vor allem, wenn er nicht kopiere, sondern aus sich selber spiele (SW Bd. 5,1, S. 17) und begrüßt seinen Wechsel in das „lokalkomische Fach“, was Raimund zuerst bedauert. Hier hebt man seine feine, mit Ernst gemischte Komik hervor, die Wahrheit und Natürlichkeit seiner Darstellung, in der Kunst und Natur verschmölzen, ebenso die „psychologische Korrektheit“. Interessant ist, daß häufig seine Adressen an das Publikum, sein publikumgerichtetes Spiel getadelt werden (SW Bd. 5,1, S. 44 und 46), das doch wesentlich zum Volkstheater und zur Dramaturgie seiner Stücke gehört.

Zu selbständigen Darstellungen, eigenen Rollen findet Raimund erst dort, wo Vorbilder fehlen; etwa ab 1816 lösen Ruhe und Besonnenheit das Forcierte seines Spiels ab. Nicht selten vermischen sich Phlegma, Grobheit und Gutmütigkeit, Witz und Dummheit, Naivität und Raffiniertheit in den Rollen, die von 1817 bis 1823 fast ausschließlich für ihn geschrieben werden. Adolf Bäuerle schreibt 1818 Raimund die erste eigene Rolle zur Demonstration seiner Wandlungsfähigkeit; Karl Meisl und Josef Alois Gleich produzieren leichtgefügte Stücke, in denen Raimund drei bis fünf Rollen ausfüllte. Hadamowsky konstatiert: „Wie Raimund in den darzustellenden Rollen vom Rollenerben zum Rollenverfasser fortschritt, so auch in der Art der Darstellung vom unselbständigen Kopisten zu dem in ganz Deutschland bewunderten Charakterdarsteller“ (SW Bd. 5,1, S. XLVII). Immer wieder wird seine Vielseitigkeit bewundert, wenn er an einem Abend „durch treffliche Darstellung von fünf ganz entgegengesetzten Charakteren“ glänzt (SW Bd. 5,1, S. 82). Vor allem aber mischt sich ein traurig-tragischer Ton in sein Spiel, der die bloße Typen- und Lokalkomik relativiert und die Darstellung des Menschlichen, Charakterlichen ermöglicht. Costenoble schreibt am 20. April 1824 in sein Tagebuch:

Selbst in der muthwilligsten Laune verstößt er nie gegen die Schicklichkeit, weil seine Komik mit einer erhabenen Wehmuth verbunden ist, die diesen Schauspieler nicht als einen Lustigmacher, sondern als einen leidvollen Humoristen erscheinen läßt, der sein Herzweh durch Mitteilung lindern möchte. (Bd. 1, S. 306 f.).

Mag auch immer etwas von Raimunds Individualität, seinem eigenen Erleben in das Rollenspiel gedrungen sein, man wird sich davor hüten müssen, Schauspieler und Rolle zu identifizieren – als habe Raimund immer sich selber gespielt – und so das Theatralische aus dem Biographischen abzuleiten. Dies ist in der Raimund-Literatur häufig der Fall, selbst Rommel Formulierung vom „Durcheinanderweben von Komik und gefühlsmäßigem Erleben“ (Rommel 1952, S. 905) ist mißverständlich, wenn nicht das Rollen-Erleben, sondern das persönliche gemeint ist.

Raimund geht auf dem von seinem Vorbild Ignaz Schuster eingeschlagenen Weg der „neuen“ Komik weiter, die wesentlich durch Charaktergebundenheit, verinnerlichte Aussage und realen Wirklichkeitsbezug bestimmt ist (vgl. Mayer 1966, s.o.). Gegenüber Schusters „spontaner Komik“ kann Raimunds komisches Spiel ,gebrochen‘ genannt werden, vielleicht „tragikomisch“ in einem noch näher zu untersuchendem Sinn. Raimunds schauspielerische Entfaltung legt den Grundstein für die Theatralik und Dramaturgie seiner Zauberspiele, deren Spielweise er als Theaterdichter, Schauspieler, Regisseur und Theaterdirektor bestimmte. Raimund dichtet und spielt mit dem Publikum, klammert es nicht aus. Er sieht das ,Theatermachen‘ einerseits durchaus vom Handwerklichen, sein „Kunstideal ist sichtlich gespalten: das eigene Schaffen gilt ihm als Handwerk und wird nur pragmatisch gedeutet“ (Erken 1969, S. 308), andererseits spricht er stolz von seiner Kunst (SW Bd. 4, S. 168). Dem kommerziellen Theaterwesen seiner Zeit steht er als Schauspieler und Schriftsteller zwiespältig gegenüber: er möchte gehaltvolle, gute, doch zugleich unterhaltende Kassenstücke schreiben, er will sich nicht der Diktatur des Lachtheaterpublikums unterwerfen, andererseits kann er aber auch nicht am Zuschauer ,vorbeispielen‘. Als Künstler und als Geschäftsmann war Raimund vom Publikum abhängig. Dennoch wollte sein Theater, das „nach Brot ging“, zugleich eine ästhetische und moralische Anstalt sein. Raimunds kritische Einstellung zum Theaterwesen wird in den Briefen an Toni Wagner deutlich, am treffendsten vielleicht in folgendem Zitat, das noch in einem anderen Sinne aufschlußreich ist:

Es hat viele Leute im Theater gegeben, die unaufhörlich nur auf die Miene des Kaisers, nicht auf die Komödie geschaut haben, ich darf also dem Glücke dankbare Blumen streuen, daß eine glückliche Verdauung vielleicht mir den Sieg über die ernste Miene Sr Majestät erleichtert hat. Von solchen Dingen hänge oft leider das Glück eines Künstlers ab (SW Bd.4, S. 99).

In diesen Zeilen wird auch Raimunds künstlerisches Selbstverständnis – auch als ,Dichter‘ – deutlich, im Unterschied zum „Mimerer“ Nestroy, der freilich ein virtuoser Schauspieler und genialer Theaterdichter war.

Die vollständigen bibliographischen Angaben der zitierten Quellen und Interpretationen finden sich in der Basisbibliographie.

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